Kunsttherapie | Wenn Kunst unsichtbare Wunden heilt

Kunsttherapie | Wenn Kunst unsichtbare Wunden heilt

Sonia Perrin | 21.05.2025 7 Minuten Lesezeit 1 Kommentar
 

Die durch wissenschaftliche Studien bestätigte Kunsttherapie hilft bei der Heilung unsichtbarer Wunden, indem sie durch künstlerisches Schaffen den Geist und die Emotionen stimuliert. Es fördert auch die soziale Bindung und bietet eine Möglichkeit, Schmerz auszudrücken und in Schönheit zu verwandeln.

Frida Kahlo (2023), Kosta Morr, Acryl auf Leinwand, 60x60 cm

Können wir durch Kunst heilen? Was poetisch oder marginal erscheinen mag, ist heute eine offensichtliche Tatsache, die von vielen Wissenschaftlern sowie Fachleuten aus dem Gesundheits- und Kulturbereich geteilt wird.

Im November 2019 bestätigte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einem Bericht eindeutig, dass Kunst sowohl für die körperliche als auch für die geistige Gesundheit von Vorteil sein kann. Die Mitgliedstaaten Europas erkennen daher die wichtige Rolle der Kultur bei der Entwicklung von Gesundheit und Wohlbefinden im Laufe des Lebens an.

Seit mehr als drei Jahrzehnten belegen neurowissenschaftliche Studien die positiven Auswirkungen der Künste auf das Gehirn. Der Neurobiologe Jean-Pierre Changeux, Vater der Neurowissenschaft der Kunst, stellt fest: „Schönheit ist für den Menschen von wesentlicher Bedeutung, weil sie uns ein gutes Gefühl gibt.“ Der Neurologe Pierre Lamarquis, Autor des Buches „Die Kunst, die das Gedächtnis heilt“, erklärt: „Die Künste bieten psychologische, aber auch physiologische, soziale und verhaltensbezogene Unterstützung, indem sie ein Gefühl des Wohlbefindens vermitteln. Sie aktivieren die Sinne, regen die Vorstellungskraft, Emotionen und intellektuellen Funktionen an, verbessern soziale Interaktionen und in manchen Fällen sogar die körperliche Aktivität.“ Klinische Studien mittels Magnetresonanztomographie haben die Auswirkungen der Betrachtung eines Kunstwerks auf das Gehirn nachgewiesen. Pierre Lamarquis erklärt: „Wenn wir mit einem Kunstwerk konfrontiert werden, das uns gefällt, schüttet unser Gehirn verschiedene Hormone aus. …Dopamin, das an der Bewegung beteiligt ist. …Serotonin, das berühmte Glückshormon, hat antidepressive Eigenschaften. Endorphine lindern unsere Schmerzen. Und schließlich schütten wir bei der Betrachtung künstlerischer Werke Oxytocin aus, das Molekül der Zuneigung und Liebe.“

Schaffen, nachdenken: eine sanfte Medizin für den Geist

keith_haring_2, Keith Haring, limitierte Auflage

Die Künste wecken intellektuelle Funktionen, erschüttern Emotionen und regen die Vorstellungskraft an. Singen, Tanzen, Modellieren, Schreiben, Schneiden, Malen usw. Sich einer kreativen Tätigkeit zu widmen, was auch immer es sein mag, bedeutet bereits, etwas für sich selbst zu tun. Von einem einem Kind zugeflüsterten Schlaflied bis hin zu einer Theateraufführung, dem letzten Konzert, das wir besuchen, oder dem Besuch einer Ausstellung – jede Kunstform, der wir nachgehen, wirkt sich positiv auf unsere geistige Gesundheit aus. Es ermöglicht uns, unsere Welt besser zu bewohnen.

Der Besuch künstlerischer Veranstaltungen trägt nicht nur zum persönlichen Wohlbefinden bei, sondern reduziert auch Stress, Ängste oder posttraumatische Belastungsstörungen. Kultur hilft den Menschen auch dabei, der Isolation zu entkommen. Kunst bereichert soziale Interaktionen, baut Verbindungen auf, fördert den Dialog und trägt zum sozialen Zusammenhalt und zur Verringerung von Ungleichheiten bei: „Rassismus, Feminismus, Demokratie, Freiheit – die Rolle eines Museums besteht darin, uns auf sehr friedliche, sehr einfühlsame und verbindende Weise dazu zu bringen, uns selbst zu hinterfragen und uns über heikle, manchmal schwierige Themen auszutauschen“, erklärt Nathalie Bondil, Direktorin des Museums des Instituts der Arabischen Welt und eine Vorreiterin in Bezug auf die Rolle, die Kulturinstitutionen im Bereich der psychischen Gesundheit spielen.

Während der Pandemie initiierte Nathalie Bondil als Leiterin des Montreal Museum of Fine Arts in Zusammenarbeit mit der Vereinigung französischsprachiger Ärzte die ersten „Museumsrezepte“. Das Konzept der Museumstherapie war geboren. In Frankreich lädt das Programm „Louvre-Linsen-Therapie“ die Teilnehmer dazu ein, „einen Moment der Selbstbeobachtung mit Kunstwerken zu erleben“. In Montpellier richtet der Psychiater Philippe Courget „Kunst auf Rezept“ ein, das jetzt den Mitgliedern der Vereinigung France Dépression zugänglich ist. In Paris hat die Psychotherapeutin Marjan Abadie „Mindful Art“ entwickelt, eine meditative Praxis, die es ermöglicht, Kunstwerken auf eine sowohl persönliche als auch universelle Weise mit Gelassenheit und Offenheit zu begegnen. Überall florieren Initiativen. Isabelle Sentis, Gründerin von Fabric'Art Therapy, lädt alle ein, ihr kreatives Potenzial zu erkunden, um Patienten dabei zu helfen, Störungen oder Pathologien durch Kunst zu lösen.

Wenn Künstler Schmerz in Schönheit verwandeln

Die Akte: Blauer Akt IV (2007) Henri Matisse, limitierte Auflage

Die berühmte mexikanische Künstlerin Frida Kahlo litt an Kinderlähmung und machte ihr Leiden zur treibenden Kraft ihrer Kreativität. Ihr Oberkörper wurde bei einem Straßenbahnunfall zertrümmert, und sie malte ihre Selbstporträts im Liegen, über ihr schwebte ein Spiegel.

Der junge Franzose Henri Matisse, der noch nie ein Museum besucht hatte, entdeckte die Malerei, als er krank und bettlägerig war. Er brach sein Notarstudium ab, um Künstler zu werden. Später, als er bettlägerig war und sich erholte, schuf er seine berühmten Scherenschnitte und beschloss, das Leben durch Farbe zu feiern. Im Jahr 1954 gestand er: „Ich möchte eine Kunst der Ausgewogenheit, der Reinheit, die weder Sorgen noch Probleme bereitet; ich möchte, dass der müde, erschöpfte Mensch vor meinen Gemälden Ruhe und Erholung erfährt.“

Die französische Künstlerin Louise Bourgeois überwindet das Trauma ihrer Kindheit mit einem schädlichen und ehebrecherischen Vater, indem sie ein monumentales und exorzistisches Werk schafft, das die Rolle der Frau im häuslichen Umfeld in Frage stellt.

Die französisch-amerikanische Künstlerin Niki de Saint Phalle wurde mit der Diagnose schwerer Depressionen und Schizophrenie in die Psychiatrie eingewiesen. Später enthüllte sie die Ursachen für die Vergewaltigung, die ihr Vater ihr im Alter von elf Jahren zugefügt hatte. Dieses Trauma prägt ihr gesamtes Werk. Als Autodidaktin nutzt sie den kreativen Akt als Kraftquelle. Das Schaffen wird befreiend.

Der japanische Produzent, Regisseur und Schauspieler Takeshi Kitano ist nach einem Motorradunfall bettlägerig und malt auf seinem Krankenhausbett faszinierende Kreaturen, halb Tier, halb Blume.

Für viele Künstler ist der künstlerische Akt eine Art Wiedergeburt. Ihre Werke sind Schreie, Lieder, Zeugnisse. Brücken zwischen ihnen und der Welt gebaut.

Kunst, ein Spiegel, um uns selbst besser zu sehen

Bilder sind Spiegel, die uns helfen, uns selbst klarer zu sehen. Von den Rätseln der in den Höhlen von Lascaux entdeckten Felskunst über die Ex-Votos, die geschaffen wurden, um Schmerz zu sublimieren und zu ertragen, bis hin zu den visionären und geometrischen Bildern, die die Schamanen Amerikas unter dem Einfluss halluzinogener Getränke erzeugten, den tibetischen Mandalas, die Erwachen und Erleuchtung fördern sollen, oder sogar den farbigen Sandmalereien des Navajo-Medizinmannes – der Mensch verfolgt seinen Ehrgeiz, sein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen und zu bewahren.

Von Hieronymus Bosch bis Albrecht Dürer, von Michelangelo bis Leonardo da Vinci, von Paul Verlaine bis Charles Baudelaire nutzt der Künstler sein kreatives Talent, um Zeugnis seiner Zeit abzulegen, zum Nachdenken anzuregen und neu geboren zu werden. Die Menschheit hat nie aufgehört, etwas zu erschaffen, um ihren Ängsten, Hoffnungen und Schmerzen eine Form zu geben. Kunst war schon immer eine Möglichkeit, das Unsichtbare zu bewohnen und mit sich selbst und anderen in Dialog zu treten.

Der Psychiater Jean-Pierre Klein fasst den Ansatz der Kunsttherapie, auch „Kulturvermittlung“ genannt, folgendermaßen zusammen: „Kunsttherapie ist eine Unterstützung für Menschen in Schwierigkeiten (psychisch, physisch, sozial oder existentiell) durch ihre künstlerischen Produktionen: plastische, klangliche, theatralische, literarische, körperliche und tänzerische Werke.“ Kunst wird zur Sprache, wenn Worte nicht mehr ausreichen.

Niki de Saint Phalle, Marie Pascale Martins, Acryl auf Leinwand, 100x50 cm

Kunst im Krankenhaus

Der bildende Künstler Jean Dubuffet ist der Autor der Skulptur „Der gastfreundliche Mann“, die vom Robert-Debré-Krankenhaus in Paris in Auftrag gegeben wurde und kranke Kinder bei ihrer Ankunft willkommen heißt. Der Künstler war auch ein großer Sammler von Art Brut, insbesondere der Schweizer Autodidaktin Aloïse Corbaz, die während ihrer Einweisung in eine psychiatrische Klinik ein umfangreiches Werk schuf.

Keith Haring, ein New Yorker Graffiti-Künstler, der sich für benachteiligte Kinder und den Kampf gegen AIDS einsetzt, hat sich freiwillig bereit erklärt, das farbenfrohe Fresko zu schaffen, das die Nottreppe des Necker-Krankenhauses in Paris schmückt. Wie Matisse, der davon überzeugt ist, dass Farben eine positive Wirkung auf die Psyche haben, verwendet Keith Haring Rot, um Aktivität und Energie anzuregen, Gelb, das sonnig ist und Freude weckt, und Blau, das Ruhe spendet und zum Nachdenken anregt.

Die positiven Auswirkungen der Kunst auf die Gesundheit

Dieses Wohlgefühl vor einem Kunstwerk, diese Ruhe beim Schaffen mit den eigenen Händen – das ist heute wissenschaftlich belegt. Die Werke dringen in unser Gedächtnis ein, verschmelzen mit ihm, lassen unsere Erinnerungen wieder aufleben, wie Spiegel, sie schwingen mit und erzeugen eine ästhetische Empathie, die Aristoteles und Sigmund Freud als „Katharsis“ bezeichneten.

Die Neurowissenschaft bestätigt die positive Wirkung der Kunst auf die Gesundheit. Was wäre, wenn das schönste Rezept einfach darin bestünde, sich häufig und ohne Maß der Kunst zu widmen? Ein Museum besuchen, einem Konzert lauschen, mit den eigenen Händen etwas erschaffen ... Vielleicht ist genau dort, in diesem sensiblen und freien Raum, eines der wirksamsten Heilmittel verborgen: eines, das den Körper heilt und gleichzeitig die Seele pflegt.

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